Interview!

735 km zu dir selber

Einmal im Leben den Jakobsweg gehen. Ein Traum den viele Menschen haben. Doch warum? Ist es der Wunsch, einmal nur mit den eigenen Gedanken alleine zu sein? Ist es der Wunsch, einmal Zeit zu haben? Corinna hat ihren Traum wahr gemacht. Sie ist den Jakobsweg gewandert und berichtet in diesem Interview über ihre Vorbereitungen, Ängste und Dinge die sie nie wieder vergessen wird.

Ich wünsche dir viel Spaß mit dem Interview, liebe*r Träumer*in!

Bist du bereit?

Dann mal los…

1.) Hallo Corinna! Danke, dass du uns heute von deinem Traum berichtest den Jakobsweg zu gehen. Stell dich doch bitte kurz vor.

Ich bin Corinna und ich bin 32 Jahre alt. Aufgewachsen bin ich am Rande des Harzes mitten in Deutschland und über Umwege bin ich seit mittlerweile 5 Jahren wieder hier angekommen. Um in der Freizeit ein bisschen abzuschalten, lese ich gerne Romane oder Thriller – am liebsten auf Englisch – und ich habe vor Kurzem angefangen, Gitarre zu lernen. Musik ist schon immer ein großer Teil meines Lebens und wenn ich nicht selber singe, höre ich mich durch diverse Playlisten auf Spotify. Und natürlich bin ich auch gerne an der frischen Luft und gehe spazieren oder wandern im schönen Harz, der direkt vor meiner Haustür beginnt. 

Reisen war schon immer ein großer Teil meines Lebens, denn das erste Mal war ich bereits mit 10 Jahren in den USA zu Besuch. Meine Familie hat eigentlich nie wirklichen „Strand-Urlaub“ gemacht, sondern es waren eher längere Urlaube, in denen wir auch etwas erlebt und entdeckt haben. Das hat sich dann in meinem Leben immer so weiter durchgezogen, denn ich mache immer noch am liebsten keinen stinknormalen Urlaub, in dem nichts groß passiert. Früher war es mal ein Kurztrip nach England für ein Konzert oder ein verlängertes Wochenende in London und heute ist es eben der Jakobsweg. 

Corinna Wetzel Jakobsweg

2.) Wie kam es dazu, dass du den Jakobsweg gegangen bist?

Durch den Film „Dein Weg“ habe ich im Jahr 2012 das erste Mal so richtig vom Jakobsweg gehört und wurde bereits damit in seinen Bann gezogen. Als ich dann kurze Zeit später das Hörbuch „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling hörte, hat dieses mich eine ganze Weile lang auf meinen Spaziergängen und auch im ganz normalen Alltag weiter begleitet. Im Oktober 2013 schrieb ich dann das erste Mal in mein Tagebuch „irgendwann gehe ich mal den Jakobsweg“. Leider kam erst meine Depression und ein Klinikaufenthalt dazwischen, wodurch ich ganz schön im Leben umhergewirbelt wurde. Als ich dann Anfang 2015 den Film „Der große Trip – Wild“ im Kino sah, wurde der Wunsch, den Jakobsweg zu gehen, bei mir immer realer. Fast schon ein innerer Drang, das jetzt einfach machen zu müssen. Und so habe ich angefangen, mir die Ausrüstung zu kaufen und das erste Mal meinen Rucksack zu packen. 

3.) Wie war deine „Route“ auf dem Jakobsweg?

Es war für mich schon schnell klar, dass ich die gleiche Route wie Hape Kerkeling laufen wollte: den Camino Frances. Da ich aber komplett untrainiert loslaufen würde, hatte ich einen ganz schön großen Respekt vor den Pyrenäen. 

In der psychosomatischen Klinik, in der ich ja einige Wochen verbraucht habe, gab es eine Schwester, die einige Jahre zuvor auch den Jakobsweg gegangen war. Und die brachte mich dann auf den Gedanken, dass ich die Pyrenäen auch einfach auslassen und erst ab Pamplona starten könnte. So stand für mich dann auch ziemlich schnell fest, dass ich also ab Pamplona bis Santiago de Compostela laufen wollte. Wenn dann noch Zeit bleiben sollte – ich hatte mir sechs Wochen gegeben – würde ich außerdem noch weiter nach Finisterre laufen. 

Camino

4.) Was haben die Menschen in deinem Umfeld gesagt?

Meine Eltern waren anfangs gar nicht begeistert von meinem Plan, einfach mal so sechs Wochen alleine durch Spanien zu laufen. Sollte ich nicht besser erst einmal einen Job suchen und dann diese Sicherheit haben, bevor ich einfach mal so losmarschiere? Oder wie wäre es, erstmal wenigstens mit einer ambulanten Therapie daheim weiter zu machen? 

Aber irgendwie haben mich diese Argumente zu dem Zeitpunkt recht wenig interessiert und ich stellte meine Familie einfach vor vollendete Tatsachen, sodass ihnen am Ende gar nichts anderes übrig blieb, als mich zu unterstützen. Glücklicherweise haben sich die Meinungen dann schnell geändert und so konnte ich ohne schlechtes Gewissen und mit viel Rückhalt von „zu Hause“ auf den Weg starten. 

5.) Hattest du vorab Angst? Ganz alleine den ganzen Weg, nur mit deinen Gedanken?

Ehrlich gesagt hatte ich gar keine Angst vorher. Ich war einfach unheimlich neugierig darauf, was mich überhaupt erwarten würde. Ich hatte ja nun schon das Buch von Hape und einige Erfahrungsberichte von anderen Pilgern im Internet gelesen, wodurch ich ungefähr wusste, was so auf mich zukommt. Auch meine kleine gelbe „Bibel“ – der Wanderführer – war sehr ausführlich geschrieben, wodurch ich mich gut vorbereitet fühlte. Und für mich war von Anfang an klar, dass auch ein Scheitern meines Vorhabens ein Teil des Weges sein könnte. Sei es wegen körperlicher Probleme oder auch, weil ich eben nicht mit meinen Gedanken und der Depression so lange alleine bleiben könnte. Ich habe diese Möglichkeit also auf jeden Fall in meine Planungen mit einbezogen, aber die Vorfreude und Aufregung haben bei weitem überwogen. Denn immerhin war ich ja schon in meinem ganz persönlichen Loch angekommen – viel schlimmer konnte es doch eh nicht mehr werden.

Die Angst, wenn ich das überhaupt so nennen würde, kam dann teilweise eher auf dem Weg selbst, als ich unterwegs war und mich mit meinen Gedanken ungestört auseinandersetzen musste. Ich glaube auch, dass mir vor Beginn meines Weges gar nicht so bewusst war, auf was ich mich da einlasse. Gerade im Hinblick auf das „alleine nur mit meinen Gedanken“. Im Nachhinein war das vielleicht naiv, aber ich war wohl einfach an einem Punkt in meinem Leben angekommen, an dem sich etwas ändern musste, koste es was es wolle. Und wer weiß, ob ich überhaupt losgelaufen wäre, wenn ich mir schon vorher zu viele Gedanken gemacht hätte. 

Jakobsweg

6.) Was waren deine größten Sorgen?

Meine größte Sorge, bevor ich losging, war tatsächlich ganz banal, dass ich den Weg körperlich vielleicht einfach nicht schaffe. Immerhin bin ich als wirklich untrainierte Couchpotato losgelaufen. Da zählt es auch nicht, dass ich hier und da mal einen Spaziergang mache. Denn wenn man plötzlich acht bis zehn Kilogramm zusätzlich auf dem Rücken trägt, während man mehrere Kilometer am Stück läuft, ist das schon wieder ganz schön anders. Aber genauso wie die Ängste in der vorherigen Frage war es wohl besser, dass ich mir keine größeren Sorgen um irgendetwas gemacht habe. Ich hatte Dank der Zeit in der Klinik und in der Tagesklinik einfach gelernt, dass ich nicht immer alles negativ bewerten sollte. Denn klar, es kann alles schief gehen. Aber dann muss es doch auch gleichzeitig die Möglichkeit geben, dass alles gut geht. 

7.) Gab es einen Punkt, an dem du wusstest, du musst das jetzt tun?

Als ich im Anschluss an meinen Klinikaufenthalt noch ein paar weitere Wochen in der ambulanten Tagesklinik verbrachte, reifte der Wunsch in mir, etwas ändern zu müssen, immer mehr heran. So wie mein Leben bisher gelaufen war, konnte es einfach nicht weitergehen, denn dann würde ich immer weiter auf der Stelle treten und vielleicht nie aus diesem Loch kommen. Die Psychologin in der Tagesklinik hat mich dann in diesem Wunsch einfach bestärkt. Und durch ihren kleinen Zuspruch zu meiner Entscheidung, den Jakobsweg laufen zu wollen, habe ich mich dann auch selbst dazu in der Lage gesehen und einfach angefangen zu planen. Ich hatte aber auch ehrlich gesagt nicht mehr viel zu verlieren und da ich ja eh krank zu Hause war, hatte ich so gesehen auch einfach die Zeit, mal eben sechs Wochen am Stück auszusteigen. Es war ein klarer Fall von „wenn nicht jetzt, wann dann?“.

8.) Wie hast du dich auf deine Reise auf den Jakobsweg vorbereitet?

Zur Vorbereitung hatte ich gar nicht so wirklich viel Zeit. Ich habe mir zum Beispiel die ganze Ausrüstung – also Schuhe, Rucksack, Wanderhose und so weiter – erst kurz vor dem Lospilgern gekauft. In den zwei Monaten von Anfang Februar bis Anfang April, die ich mir zum Planen gegeben hatte, musste ich ja das alles erstmal organisieren. Letztendlich bin ich in dieser Zeit dann öfter zu Fuß mit den neuen Wanderstiefeln gelaufen. Wobei das zum richtigen „Einlaufen“ eigentlich noch gar nicht gereicht haben konnte. Und so wirklich trainiert habe ich auch da nicht so wirklich. 

Selbst, als ich dann nach und nach meine Ausrüstung zusammen hatte, habe ich zwar mal halbwegs probegepackt, aber ich habe vor dem Start am 8. April keine einzige Wanderung mit meinem grünen Monsterchen gemacht, bevor ich in Spanien ankam. Im Nachhinein sagt der eine oder andere vielleicht, dass dies leichtsinnig war, aber es hat ja trotzdem funktioniert. Ich habe mir halt gedacht, dass dieses Unterfangen „ja auch einfach klappen könnte“. Scheiß auf die negativen Gedanken – die habe ich in dieser Zeit einfach weggeschoben zugunsten des Optimismus. 

Konkret habe ich also einfach nur die Ausrüstung mit Hilfe von verschiedenen Listen, die man im Internet und im Reiseführer findet, zusammengesucht und -gekauft. Da ich ja nur ein begrenztes Budget zur Verfügung hatte, musste ich auch auf den Preis achten. Rucksack, Schuhe und Socken sind zwar von namhaften Herstellern, aber dafür waren es die Shirts und Hosen beispielsweise nicht unbedingt. „Hauptsache, es passt.“ Einige Dinge habe ich dann aber auch noch vor der Abreise von meiner Familie geschenkt bekommen. Über meine Socken war ich dann wirklich besonders froh, denn die haben mich in Kombination mit Hansaplast vor so einigen Blasen verschont. 

Für Freunde und Familie gab es dann eine gesammelte WhatsApp-Gruppe, in der ich ab und zu ein Lebenszeichen in Form von Bildern und kurzen Updates an alle schickte. Ich hatte das Handy auf dem Weg allerdings sehr oft im Flugmodus, da ich es hauptsächlich als Kamera nutzte. Lediglich um hier und da etwas nachzuschlagen oder halt ein Update zu schicken, wählte ich mich ab und zu ins fast überall vorhandene WLAN ein. 

Jakobsweg Rucksack

9.) Wie war es die ersten Kilometer auf dem Jakobsweg zu gehen?

Anstrengend und schmerzhaft. Bereits am ersten Tag hatte ich den Gedanken, dass ich das einfach wieder abbreche: „Was hast du dir denn hierbei nur gedacht?!“ Dieser Satz war nicht nur einmal mein Begleiter, als es mal wieder viel zu lang und viel zu steil bergauf ging. Und trotzdem bin ich weitergelaufen. So richtig war an Aufhören nämlich doch nicht zu denken. Ich merkte beispielsweise, dass es auch unheimlich guttat, nach den ersten 17,6 Kilometern in einer Herberge anzukommen. Der erste Tag war geschafft! So viel am Stück war ich das letzte Mal… hm… keine Ahnung, wann ich das letzte Mal eine so lange Strecke zu Fuß gelaufen war. Es fühlte sich toll an. Und abends gab es leckeres Essen und Rotwein, der sein übriges tat. Es war ein geselliger Abend mit einem Finnen und diversen anderen Nationalitäten. Und Dank des Weins war es draußen ja auch gar nicht mehr so kalt, obwohl es gerade mal Anfang April war. 

Wenn ich eins bereits auf den ersten Kilometern meines Jakobswegs gelernt habe, dann dass man nie allein ist, wenn man nicht unbedingt alleine sein will. Irgendwo kommt immer jemand, der dich mitzieht oder dir ein offenes Ohr schenkt. Und wäre Guiseppe aus Italien am zweiten Tag nicht gewesen, weiß ich nicht, ob ich direkt weitere 20 Kilometer geschafft hätte. Denn ich war echt fertig vom ersten Tag, aber er hat mich einfach immer weiter zugetextet – wohlgemerkt auf Italienisch. Ich spreche kein Italienisch. Es war eine echt witzige Konversation, denn er quatschte immer weiter in seiner Muttersprache und ich antwortete in einem Mix aus Deutsch und Englisch, denn verstehen konnte er diese beiden Sprachen ein bisschen, wenn auch nicht sprechen. Und da ich ja sieben Jahre lang Französisch in der Schule gelernt hatte, konnte ich mir hier und da ein bisschen von ihm zusammenreimen. 

Und trotzdem wurde das eigentliche Laufen in den ersten Tagen nicht leichter. Es ging viel bergauf und bergab, die Füße taten besonders nach kurzen Verschnaufpausen wirklich dolle weh und nach vier oder fünf Tagen fing dann mein Knie an, sich schmerzhaft zu melden. 

10.) In welchen Momenten wolltest du aufgeben? Warum hast du es nicht getan?

Wie schon gesagt, hatte ich ja direkt in den ersten Tagen schon den Gedanken, warum ich mir das überhaupt antue. Aber komischerweise kam nie ein richtig konkreter Moment, an dem ich wirklich aufgeben wollte. Irgendetwas hat mich immer wieder dazu bewegt, weiter zu gehen und einfach zu gucken, was mich im nächsten Ort erwarten würde. Ich kann noch nicht mal sagen, dass ich es mir oder irgendjemandem beweisen wollte. Immerhin hatten ja auch meine Familie und ich selbst schon vor meiner Abreise betont, dass auch ein Abbruch des Weges kein Scheitern bedeuten würde. 

Und so lief ich halt einfach immer weiter. An den ersten vier Tagen so an die 20 Kilometer pro Tag und danach dann auch mal nur 7 Kilometer an einem der Tage, an denen mein Knie so sehr schmerzte, dass ich kaum vorankam. Aber es ging immer weiter. Es stimmt wohl, dass der Weg einen nicht mehr loslässt, sobald man ihn anfängt. Und so kam ich auch an Tagen, an denen ich meinem Knie eine wohlverdiente Pause gönnte oder gönnen wollte, der Kathedrale von Santiago immer ein Stück näher, und sei es auch „nur“ mit dem Bus. Am Ende waren es dann knapp 160 der insgesamt 735 Kilometer von Pamplona nach Santiago, die ich motorisiert zurücklegte, weil ich zwischendurch vor allem meinem Knie keinen bleibenden Schaden zufügen wollte. Glücklicherweise wurde aber auch dieses Leiden irgendwann weniger, sodass ich an einem Tag plötzlich ganz unverhofft nach mehreren sehr kurzen Lauftagen und Pausen einfach so wieder 20 Kilometer ganz ohne Schmerzen laufen konnte. Ab diesem Tag fiel mir das Laufen immer leichter und es machte einfach nur noch Spaß. 

Ich glaube, ich habe einfach beim Laufen und beim Austausch mit diesen vielen unterschiedlichen Menschen gemerkt, dass dieser Weg mir wirklich guttut. Ich kann es nicht so richtig in Worte fassen, aber auf dem Camino gab es für mich ja keine Verpflichtungen und keine Erwartungen, die ich erfüllen musste. Selbst ich an mich selbst hatte ja kaum Erwartungen, außer, dass ich – solange es mir körperlich und psychisch gut geht – möglichst viel zu Fuß gehen wollte und irgendwann in Santiago de Compostela ankommen wollte. Das war anscheinend schon Motivation genug, nicht aufzugeben. 

Jakobsweg Richtung

11.) Gibt es Situationen, Momente, Geschichte, die du nie vergessen wirst? Magst du diese mit uns teilen?

Ein Moment, der fast noch zur Frage vorher passt, war an einem sonnigen Tag kurz hinter Los Arcos. Ich war schon 12 Kilometer gelaufen und nach einer etwas längeren Verschnaufpause in der Sonne hatte ich das Gefühl, dass ich den nächsten Ort doch noch erreichen würde: „Das schaffe ich schon.“ 

Bis zum nächsten Ort sollten es zwar „nur noch“ sieben Kilometer sein, aber schon nach eineinhalb oder zwei Kilometern aus Los Arcos hinaus war es mir kaum noch möglich, mein Knie richtig zu benutzen. Jeder Schritt bedeutete stechenden Schmerz und ich weiß nicht, wie lange ich am Ende für diese doch eigentlich recht kurze Strecke gebraucht habe. Aber „rückwärtslaufen“ ging erst recht nicht, denn immerhin hatte ich es ja jetzt schon so weit geschafft. Die Frage, ob ich nicht besser wieder nach Los Arcos umdrehen sollte, stellte sich mir komischerweise, trotz der wirklich starken Schmerzen, überhaupt nicht.  

In Sansol sollte es laut meinem treuen Wanderführer dann zwar keine richtige Herberge, dafür aber eine kleine Pension geben. Der Preis für diese Unterkunft war mir zu dem Zeitpunkt schon total egal, weil ich einfach nur froh war, die Strecke hinter mich gebracht zu haben. Also schnell an die Tür geklopft und gewartet. Keine Reaktion. Nochmal etwas lauter geklopft. Immer noch keine Reaktion. Pah! Egal – da stand ja praktischerweise direkt eine kleine Bank vor dem Haus, dann wollte ich halt warten, bis jemand kommt. Mir war nur klar, dass ich keinen Meter mehr freiwillig laufen würde an diesem Tag. 

Also Rucksack abgesetzt und ab auf die Bank. Da ich ja allem Anschein nach noch ein bisschen Zeit haben würde, bis hier mal jemand kam, wagte ich einen Blick in mein gelbes Büchlein, um zu sehen, wie der Weg morgen wohl aussehen würde. Bestimmt wieder viel Strecke ohne Orte und viel bergauf und bergab. Aber als erstes sah ich einfach direkt, dass der nächste Ort Torres del Rio nur noch einen einzigen Kilometer entfernt war. Und dort gab es wieder die günstigen Albergues (Herbergen), die mein Budget nicht gleich in der ersten Woche so strapazieren würden. Kurzer Blick um die Ecke, ob hier nicht doch noch irgendwo die Pensionsbetreiber rumstehen und dann kam mein grüner Rucksack wieder auf den Rücken. 

„Den einen Kilometer schaffe ich jetzt auch noch irgendwie.“ Dachte ich und humpelte langsam los. Erst bergab – eine Hölle für das Knie – und dann sehr langsam bergauf in den neuen Ort hinein. Die erste Herberge hatte direkt auch noch ein Bett für mich und ich konnte endlich unter die Dusche. Auf dem kleinen Platz vor der zugehörigen Kneipe saßen schon einige Pilger und tranken Bier und Vino, sodass ich mich einfach dazu setzte und auch schnell Anschluss fand. An diesem Tisch lernte ich dann auch eine liebe Mitpilgerin kennen, die mich am Ende bis nach Santiago begleiten würde – das wusste ich zu dem Zeitpunkt aber noch nicht. 

Oh man, ich merke gerade, es gibt wirklich so viele schöne Momente, die ich hier erzählen könnte, aber dann wird eventuell doch eher ein Buch daraus anstelle von einer Antwort in diesem Interview. Nur eins noch: Eine Art Sprichwort auf dem Camino lautet „The camino provides.“ (sinngemäß: „Der Camino kümmert sich.“) – und so ist es wirklich. Ganz egal, was ich gerade benötigte. Sei es die Bushaltestelle in Torres del Rio, die mir einen Tag Pause bescherte, indem ich von dort aus mit dem Bus nach Logroño fuhr, ein gelber Pfeil mitten im Nirgendwo, der mir zeigte, dass ich doch noch auf dem richtigen Weg war oder aber der kleine gelbe Vogel, der mich dazu animierte einfach weiterzulaufen. Aber genauso auch eine spontane Begleitung oder die Ruhe alleine auf dem Weg – ich bekam tatsächlich immer genau das, was in dem Moment das Richtige für mich war. Wenn ich es auch manchmal erst hinterher merkte – wie zum Beispiel mit Guiseppe, der mich ja am zweiten Tag so zuquatschte, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie ich plötzlich 20 Kilometer zurückgelegt hatte. 

12.) Jetzt, wo du wieder „zu Hause“ bist. Was würdest du über diese Zeit sagen, wie hat es dich verändert den Jakobsweg zu gehen?

Puh, das ist wirklich keine einfache Frage. Ich möchte glauben, dass mir die Zeit auf dem Jakobsweg gezeigt hat, dass es immer einen Weg gibt. Ich habe gelernt, dass ich auch mal an meine körperlichen Grenzen und darüber hinaus gehen kann, um an ein Ziel zu kommen. Das Ergebnis ist es definitiv wert. 

Der Jakobsweg hat mich aber auch gelehrt, in einigen Situationen gelassener und auch dankbar zu sein. Nicht alles, was mir im „normalen“ täglichen Leben total wichtig vorkommt, ist es im Endeffekt auch. Ich besinne mich zwischenzeitlich immer mal wieder darauf zurück, dass es mir doch auch einfach gut geht. Ich habe ein Dach über dem Kopf, ich bin größtenteils gesund und ich bin auch mit 32 noch jung. Nur, weil ich ein Ziel heute noch nicht erreicht habe, heißt das ja nicht, dass ich es nie erreichen werde. Der Camino wird sich schon um mich kümmern – auch wenn ich nicht gerade in Spanien über staubige Wege laufe. Der Camino ist irgendwie immer bei mir. 

Jakobsweg Schatten

13.) Was ist dein nächster großer Traum? Wann gehts los?

Mein nächster großer Traum ist es, Gitarre spielen zu können. Klingt nach dem Traum vom Jakobsweg ja irgendwie ganz schön banal, aber ich will das wirklich schon seit Jahren. Ich habe seit zwei Jahren eine Gitarre bei mir, die ich einem ehemaligen Kollegen abgekauft habe und seitdem verstaubt sie bei mir an der Wand. Sieht zwar echt stylisch aus, aber bringt ja nicht wirklich was. Und so habe ich mich vor ein paar Monaten endlich zu einem Anfängerkurs bei der Volkshochschule angemeldet. Also ist es sogar schon losgegangen. 

Ich habe es mir wirklich viel leichter vorgestellt, aber auch wenn das Erlernen mir nicht so einfach in den Schoß fällt, wie es vielleicht noch in meiner Jugend gewesen wäre, so macht es mir trotzdem großen Spaß. Ich kann immerhin schon acht verschiedene Akkorde greifen und es macht wirklich wahnsinnig viel Freude, wenn das Umgreifen immer besser funktioniert. Wer weiß, vielleicht kann ich dann bald endlich mein Lieblingslied spielen. Ist mir vollkommen egal, dass es total abgedroschen klingt und viele es für total langweilig halten, aber ich wollte immer schon „Wonderwall“ von Oasis spielen können. Bald ist es dann hoffentlich soweit. :)

14.) Was möchtest du den Träumer*innen da draußen raten, die sich vielleicht noch nicht trauen ihren Traum zu leben.

Es klingt möglicherweise etwas ausgelutscht, aber das macht es nicht weniger wahr: Einfach machen! Ganz egal, was dein Umfeld zu deiner Idee oder zu deinem Vorhaben zu sagen hat oder ob du meinst, dass du den sicheren Weg bevorzugen solltest. Wenn ein Traum in dir Wurzeln schlägt, möchte er auch Blüten tragen – also mach es einfach. Denn klar, es könnte so viel schief gehen und vielleicht verlierst du etwas Geld oder du schaffst es nicht direkt beim ersten Anlauf oder du musst Hilfe in Anspruch nehmen oder oder oder. Aber vielleicht – und jetzt einfach mal kurz den Gedanken zulassen – vielleicht klappt es ja auch und alles wird gut. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. 

15) Was möchtest du noch sagen?

Seit dem ersten Camino im Jahr 2015 bin ich mittlerweile noch zwei weitere Male auf dem Jakobsweg gewesen. Beide Male war es wieder der Camino Frances. Der Weg lässt mich einfach nicht los, was ich aber überhaupt nicht schlimm finde. 

Als nächstes plane ich in diesem Jahr den Caminho Portugues von Porto bis Santiago de Compostela zu gehen. Der ist wunderbar innerhalb von zwei Wochen zu schaffen, sodass ich meinen Urlaub dafür nutzen kann, ohne mir Gedanken machen zu müssen, ob die Zeit ausreicht. Wenn ihr also jetzt auch Lust auf den Jakobsweg bekommen habt, aber meint, dass der Camino Frances euch aktuell zu lang ist oder ihr nicht so lange am Stück frei bekommt, dann wäre das ein wirklich guter Einstieg. Oder ihr lauft den Weg von Saint-Jean-Pied-de-Port aus einfach in mehreren Etappen. Das machen auch viele Pilger, die einen festen Job haben und nicht mal eben so sechs Wochen am Stück frei bekommen. Ihr seht – es gibt viele Möglichkeiten. Und dann: Einfach machen. :)